Dunkle Geheimnisse in alten Pyramiden? Grausame Rituale zur Erlangung der Unsterblichkeit oder längst verschüttetes magisches Wissen der Pharaonen?
Der sog. "Kannibalenspruch" ist ein Zauberspruch der altägyptischen Pyramidentexte, von denen etwa 800 bekannt sind. Sie finden sich auf Wänden der Gänge und Grabkammern von neun Pyramiden des späten Alten Reiches und der 1. Zwischenzeit. Sie sind die vermutlich ältesten schriftlichen magischen Dokumente der Menschheitsgeschichte.
Lage
Der Text, Fachbezeichnung PT273/274, befindet sich in situ in zwei Pyramiden des Alten Reiches: der Pyramide des Königs Unas aus der 5. Dynastie und des Königs Teti II. aus der 6. Dynastie. Diese Pyramiden stehen ca. 20 km südlich von Kairo in Sakkara neben der berühmten Djoser-Pyramide.
Entdeckung
Entdeckt wurden die Pyramidentexte in den Jahren 1880-1881 von Gaston Maspero und Emil Brugsch, zwei frühen Ägyptologen, in den Pyramiden des Unas, Teti II., Pepi I., Merenre und Pepi II. Kurz darauf erfolgte die Veröffentlichung der Übersetzung. Eine Neubearbeitung erfuhren sie dann durch Kurt Sethe im Jahre 1899, der dabei auch zahlreiche Mängel der Erstübersetzung korrigierte.
Pyramidentexte
Die Pyramidentexte sind eine Sammlung religiöser Sprüche, die im Alten Reich Verwendung als Königstotentexte fanden. In dieser Funktion waren sie ursprünglich nur für den König gedacht. Mit dem Zusammenbruch des Alten Reiches einher ging dann die Verwendung der Texte auch für die Untertanen. Älteste Beispiele der Anwendung der Pyramidentexte auf nichtkönigliche Personen finden sich in der 7. Dynastie.
Im Neuen Reich finden sich Texte aus dem Kreise der Pyramidentexte nur selten, außer denen, die dem Ritual für den Gottesdienst allgemein angehören. Erst in saitischer Zeit kommt es zu einem Wiederaufleben der Pyramidentexte aufgrund des Interesses für das Alte Reich. Sie finden sich in Gräbern und Grabkappellen.
Inhalt
Der "Kannibalenspruch" beginnt mit dem Dahinscheiden des Königs. Damit beginnt das Chaos, Erde und Himmel geraten in Unordnung. Alle Bewegung erstarrt, als der König erscheint, nun nicht mehr Mensch, sondern schon ein überirdisches, machtvolles Wesen auf dem Weg zu seiner Bestimmung. Er hat sein irdisches Kleid abgelegt und macht sich daran, das Erbe seiner Väter anzutreten.
Seine Kraft auf Erden ist erloschen, er ist ganz auf der anderen Seite, ausgestattet mit den Kräften der Göttlichkeit, bereit und willens, den vorgezeichneten Weg zu gehen. Ihm zur Seite finden sich hilfreiche Gestalten, wie der "Packer der Scheitel", der ihm Menschen und Götter mit dem Lasso fängt und die "Schlange mit erhobenem Kopf", die sie für ihn bewacht.
Der Mondgott Chons schneidet den Gefangenen die Kehlen durch und entnimmt die Eingeweide, der Ölpressengott zerstückelt den Rest und kocht sie in Kesseln auf Feuerherden, gemacht aus den Füßen der ältesten Frauen der Bewohner des Himmels.
Durch Verzehr des Mahles nimmt der König die Kräfte der Verspeisten in sich auf und durchwandert den ganzen Himmel, mit wahrer Königswürde ausgestattet, die Kräfte der Geschlachteten in sich aufgenommen, verleibt sich noch die Kronen Ägyptens ein und wird zum unumschränkten Herrscher des Himmels in Ewigkeit. Auch seine Pyramide auf Erden ist nun für alle Zeiten gesichert.
Interpretationen
Der sog. "Kannibalenspruch" - ein einzigartiges magisches Dokument, vermutlich das erste seiner Art, schildert den Aufstieg des verstorbenen altägyptischen Königs in den Himmel und der darauf folgenden Schlachtung und Verspeisung der dort beheimateten Götter. Blasphemische Revolution oder semantische Brillanz einer neuen Epoche? Die Deutungen könnten unterschiedlicher nicht sein.
Sethe
Für K. Sethe beginnt der Text mit einer "Naturschilderung". Es kommt zu einer Störung der Natur durch das Erscheinen des toten Königs am Himmel, vermutlich als Stern ("Stier des Himmels"). Der Himmel und die Erde beben, es kommt zu einem Stillstand von Luft und Wasser.
Der König ist ein fürchterlicher Gott, imstande, alles aufzufressen (wie z. B. Saturn), unerkannt in seinem Wesen (nicht einmal seine Mutter kennt seinen Namen), mächtiger als sein Vater Atum; er nimmt die Zauberkräfte der Götter in sich auf.
Der Tote hat alles was er braucht, wo andere hungern und dürsten. Er hat Diener, die ihm holen, was er wünscht, so auch die vom König zu verspeisenden Opfer, und sie schlachten und zubereiten. Dadurch sollen Zauberkräfte erlangt werden. Himmel und Erde sind sein. Die Krönung auf Erden wird im Himmel wiederholt. Die Überlegenheit Oberägyptens wird hervorgehoben.
In den Grenzen des Horizonts kann der Tote schalten und walten, wie er will, nicht aber auf Erden. Die Schatten der Verspeisten bleiben zurück. Der Tote bleibt im Himmel und seine Ruhestätte auf Erden wird bestehen bleiben.
Spiegel
Für Joachim Spiegel enthüllt der Spruch das Bild eines noch voll praktizierten magischen Kannibalismus´. Das Ziel ist die Gewinnung von "Zauberkräften" (Hekau) und "Geisteskräften" (Achu).
Sitz dieser Kräfte sind die Eingeweide, von denen "Lungen" und "Herzen" besonders hervorgehoben werden. Als Erfolg des kannibalischen Mahles wird verzeichnet, dass der Tote "die Erkenntniskraft jedes Gottes verschluckt hat".
Dies entspricht der klassischen Lokalisierung der Erkenntniskraft im Herzen. Herzen und Lungen werden ausdrücklich als "weise" bezeichnet. Sie sind also nicht nur Träger des "Lebenshauches", sondern zugleich Vermittler der vom Herzen ausgehenden Erkenntniskraft.
Unas verspeist sie, um in den Besitz geistiger Kräfte zu gelangen. Ihren Höhepunkt erreicht diese magisch-kannibalische Konkretisierung der göttlichen Geisteskraft durch das Auskochen der Knochen. Was ausgekocht wird ist das Mark, und "das Mark aller Dinge" ist die göttliche Geisteskraft.
Kannibalismus als magisches Mittel muss den Verfassern des Rituals bekannt gewesen sein, um von ihnen in den Kreis des Möglichen einbezogen zu werden und die Realistik der Darstellung lässt auf ziemliche Vertrautheit der Verfasser mit entsprechenden Geschehnissen in der Wirklichkeit schließen.
Ein solches reales Vorbild kann nur in der Geschichte der Machtergreifung des Unas gesucht werden, die durch gewaltsame Usurpation erfolgte und sich auf die untersten Schichten des ägyptischen Volkes, sowie auf Angehörige der barbarischen Nachbarvölker Ägyptens stützte.
Aus der Mentalität dieser primitiven Anhänger des Unas scheint die ganze Vorstellungswelt wie der Handlungsbereich des "Kannibalenspruches" geflossen zu sein und aus der Bedeutsamkeit, die derartigen Vorgängen als Begleiterscheinungen der irdischen Machtergreifung des Unas innewohnen musste, erklärt sich die Bedeutung, die man ihnen als letzter Alternative und äußerstem Mittel zur Durchsetzung der Machtergreifung des verstorbenen Königs im Himmel zuschrieb.
Kammerzell
Frank Kammerzell wiederum sieht im "Kannibalenspruch" keinen Hinweis auf einen eventuell praktizierten Kannibalismus. Er weist darauf hin, dass niemand zu ähnlichen Schlussfolgerungen z. B. im griechischen Mythos des Kronos kommt, der ja seine Kinder frisst oder im christlichen Abendmahl einen menschenfresserischen Akt vermutet.
Er stellt die These auf, dass versucht wurde, durch literarische Gestaltung eines Wirklichkeitsszenarios eine akzeptierte oder zumindest akzeptierbare religiöse Wahrheit zu schaffen. Er spricht von einem "Akt der Wahrheitsstiftung", im Gegensatz zu einem "Akt der Wahrheitswiedergabe".
Die vorhandenen Unterschiede in der Spruchfassung von Unas und Teti sind für ihn Argumente gegen die Annahme, der Text wäre bereits jahrzehnte- oder jahrhundertelang zuverlässig überliefert worden. Durch die als subversiv zu betrachtende Umkehr der geltenden Rangordnung aufgrund des Verspeisens der Götter erlangte dann der Spruch aber nie die erwünschte religiöse Bedeutung.
Textstelle
"Chonsu ist es, der die Herren mordet, indem er sie für N.N. abkehlt
Und ihm herausnimmt, was in ihrem Leibe ist,
der Bote ist das, den er aussendet um zu strafen.
Der Ölpressengott ist es, der sie für N.N. zerstückelt
Und ihm ein Mahl kocht von ihnen in seinen abendlichen Kochherden.
N.N. ist es, der ihre Zauberkräfte isst und der ihre Geister verschluckt."
Resümee
Es scheint, als hätten die damaligen Priester mit dem "Kannibalenspruch" ihrem König eine "magische Leiter" für den Aufstieg zum Himmel geschaffen. Die Positionierung des Textes ist genau unter der Spitze der Pyramide.
Die Anbringung des Spruches erfolgte am oberen Wandabschnitt, für die einfache Rezitation durch Priester während des Begräbnisrituals unbrauchbar - wohl aber für den vergöttlichten König geeignet, ihn nach Beendigung aller Zeremonien in der nächsten Welt zu Glanz und Ansehen zu führen.
Quellen:
J. SPIEGEL, Das Auferstehungsritual in der Unaspyramide, Äg. Abh. 23.
F. KAMMERZELL, Das Verspeisen der Götter - Religiöse Vorstellung oder poetische Fiktion?, Ling. Aeg. 7 (2000).
E. HORNUNG, Meisterwerke altägyptischer Dichtung, Zürich 1978.
K. SETHE, Die altägyptischen Pyramidentexte, Erster Band, Leipzig 1908.
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